Behinderung – Teilhabe – Partizipation
“Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden”, so klar sagt das Artikel 3 des Grundgesetzes. Behinderung muss mit Teilhabe und Partizipation zusammen gedacht werden. Teilhabe, Inklusion, Partizipation sind mehr als schöne Schlagworte. Die Fragen sind: wer ist eigentlich “behindert”? Was geht uns das alle an? Und wie gehen wir damit um?
Die UN – Behindertenrechtskonvention
Die BRK hat das Recht auf Zugang zu Bildung, Arbeitswelt und Teilhabe am kulturellen Leben festgestellt. Deutschland hat das Protokoll 2007 unterzeichnet. Allerdings gibt es weltweit nur in etwa 40 Staaten überhaupt eine nationale behindertenpolitische Gesetzgebung, und geschätzt leben 2/3 aller Behinderten in den anderen Ländern. Aber zurück zu den Definitionen: erst 2001 kam es zu einem Paradigmenwechsel durch die WHO: während diese vorher eine persönliche Beeinträchtigung zugrundelegte, die dann zu Funktionsbeeinträchtigung (disability) und damit zu sozialer Beeinträchtigung (impairment ) führte, sollte jetzt Behinderung als Ergebnis der negativen Wechselwirkung zwischen Beeinträchtigung der Person und den Teilhabe – verhindernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gesehen werden.
Teilhabe als sozialpolitisches Konzept
Es geht also nicht (nur) um Integration oder Inklusion in etwas Existierendes, sondern um Veränderungen auf allen Seiten: von Rahmenbedingungen bis zu Eigenverantwortung und Selbstbestimmung. Nicht (nur) um eine formale Zugehörigkeit, sondern um die Selbstverständlichkeit, dazuzugehören. Diese Selbstverständlichkeit gilt es immer noch auf allen Seiten zu erreichen. Teilhabe, noch besser Partizipation, ist ohne das Gefühl des Dazugehörens nicht wirklich möglich. Das Wesentliche ist, nicht nur physisch, sondern auch psychisch überall gleichberechtigt “anzukommen”. Formal sind Fortschritte zu verzeichnen: In Deutschland wurde der Paradigmenwechsel der WHO im SGB IX nachvollzogen, das BMSA sagt: “Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf selbstbestimmte und umfassende Teilhabe. Das bedeutet Barrierefreiheit auf allen Gebieten des Lebens,” und in der Präambel des DIMDI (heute BfArM) steht: Behinderung ergibt sich „aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren […], die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern.“
Partizipation ist nicht (nur) “Teilhabe”
Die Begriffe werden oft synonym gebraucht, bedeuten aber nicht dasselbe. Im originalen englischen Text der UN – BRK steht “participation”, das wurde mit “Teilhabe” übersetzt und wird seitdem im Deutschen so benutzt. Aber für das englische Wort participation gibt es im Deutschen kein adäquates Wort, man muss auf das lateinische zurückgreifen und benutzt “Partizipation”. Bei “Teilhabe” liegt der Focus auf dem Teilnehmen an etwas Vorgegebenem, bei Partizipation auf Mitentscheiden und Mitgestalten. Nur dieser Begriff umfasst also voll das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen. Es geht nicht nur darum, dass es (endlich!) barrierefreie Zugänge überall geben muss, sondern darum, für die Gestaltung von Barrierefreiheit im weitesten Sinne vor allem Betroffene zunächst anzuhören und zu beteiligen.
Das “Andere” und “Othering”
“Othering” bedeutet Anders – Machen, bekannt durch Ausschließen von allen “Anderen” aus einer Gruppe, zum Beispiel Fremden. Es beginnt damit, dass sich eine Grupe als “so” definiert, und dann allen, die nicht “so” sind, nicht nur Zugang verwehrt, sondern sie sogar als nicht gleichwertig ansieht. Warum das auch bei Behinderten funktioniert, hat allerdings etwas mit dem Begriff “Behinderte” selbst zu tun. Der betont nämlich nur, was diese Menschen im Gegensatz zu “uns” nicht können, beschreibt also von vornherein nur Defizite und Einschränkungen. Das gilt im Übrigen auch für die meisten Begriffe aus dem Umfeld wie z.B.: Versorgung, Behindertenhilfe, Eingliederungshilfe. Das ist gut gemeint, hat aber auch diesen negativen Aspekt.
“An Behinderung leiden”
Es beginnt also bei der Sprache. Ein großer Teil der definitionsgemäß behinderten Menschen (mit Schwerbehindertenausweis) arbeiten und schaffen ihren Alltag; das fällt ihnen je nach vorhandenen Rahmenbedingungen mehr oder weniger schwer; aber wir sprechen generell von Menschen, die an Behinderungen “leiden”. Damit kann und darf eine ganze Gruppe aber nicht definiert sein; auf diese Weise werden Menschen ohne jede Individualität beschrieben, denen man so eigentlich jede Partizipation abspricht. Besser wäre zu fragen, was wir tun müssen, um jedem Menschen in unserer Gesellschaft ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Dazu reichen politische Entscheidungen von oben nicht; sie sind wichtig, aber vorher müssen doch zunächst die Bedürfnisse der Menschen selbst bekannt sein. Dieses Erfragen der individuellen Bedürfnisse ist schon Teilhabe, es ist der erste wichtige Baustein auf dem Wege zu einer Gesellschaft, die Partizipation für alle ermöglicht.
Gleiche Bedürfnisse bei Behinderung
In letzter Zeit tut sich Einiges von Seiten der Behinderten selbst; soziale Netzwerke können wichtig für öffentliche Wahrnehmung sein. Hier äußern sich behinderte Menschen zu ihren Bedürfnissen, und es scheint eine ungeahnte Vielfalt auf. Man sieht da, dass es in Bezug auf Wünsche zu Lebensqualität und Wohlbefinden keine Unterschiede zu Menschen ohne Schwerbehindertenausweis gibt. Wundert uns das wirklich? Wieso ist in unser Bewusstsein das Bild von Mitmenschen eingedrungen, die keine sexuellen oder ästhetischen Bedürfnisse haben, einfach nur bemitleidenswert und hilflos sind? Genau an dieser Stelle, bei unserer Wahrnehmung, müssen wir ansetzen; zuhören und Erlebnisberichte der Betroffenen in uns aufnehmen. Sie sind wichtig und zeigen ein längst überfälliges Selbstbewusstsein der Gruppe behinderter Menschen.
Influencer*innen mit Behinderung
Suchen Sie doch einmal im Internet “Influencer*innen mit Behinderung” oder sehen Sie “Sakul Talks” auf youtube. Und: wussten Sie, dass es “adaptive wear” gibt? Eine Mode, die nicht nur praktische und pflegerische Merkmale integriert, sondern auf Schönheit setzt? Das ist ein ganz kleiner Baustein, aber ein wichtiger. Er macht auch bewusst, was unsere “Normen” (z.B. Konfektionsgrößen und Designs) letztlich bedeuten – nichts, denn sie “passen” nicht für jeden Körper, und sie müssen ja an Körper angepasst werden, nicht umgekehrt.
“Disability Pride Month”
Gerade hat dieser Monat begonnen, in dem Behinderung deutlich sichtbar gemacht und wahrgenommen werden soll. Jedes Mittel ist gut, um uns auf dem Weg zum gesamtgesellschaftlichen Umdenkens weiterzubringen: WIR als Gesellschaft bestehen aus kleinen Kindern, die NOCH nicht – und alten Menschen, die NICHT MEHR sicher laufen können; zu uns gehören Leistungssportler und chronisch Kranke, intellektuelle Überflieger und Menschen, die “Leichte Sprache” brauchen. “Behindert” ist nicht nur jemand, der einen Rollstuhl benötig. Behindert sind wir alle in bestimmten Momenten und Lebenslagen. Jede*r ist, so wie sie*er ist und möchte so leben wie er*sie will. Nein, es muss nicht für Jede*n alles besonders leicht gemacht werden; aber ein Zugang zu allem, was unser Alltag ist, was für uns hier und heute “normal” ist, muss für alle gewährleistet sein. Darüber hinaus muss Jede*r entscheiden können, wie sie*er leben will. Dazu gehört auch, ob als Behinderte weiterleben oder nicht, wenn Behinderung behoben werden kann; eine Diskussion, die z.B. bei Gehörlosen geführt wird.
“Behinderung” und diskriminierende Sprache
Wir müssen alle mehr sensibilisiert werden, um andere Lebensweisen und Bedürfnisse zu verstehen, und um endlich unsere Sprache korrekt und nicht diskriminierend zu benutzen. Wer unter “behindert” oder “Ableismus” sucht, kann in sozialen Netzwerken verfolgen, dass es behinderten Menschen nicht um Beschönigung, sondern um Klarheit der Begriffe geht. Behinderte Menschen bezeichnen sich selbst als behindert, nicht als “besonders” oder Ähnliches, sie wollen keinen Paternalismus, (z.B. ungefragtes Anfassen des Rollstuhls, um zu “helfen”); sie wollen das Einfachste und offensichtlich Schwerste: wie jeder Mensch behandelt werden und Bedingungen haben, die größtmögliche Selbständigkeit gewährleisten. Wenn wir aber lesen, wie oft “behindert” nicht als Beschreibung behinderter Menschen, sondern als herabwürdigender Begriff und Schimpfwort benutzt wird, wird “unser” großes Problem deutlich, das Problem der Nicht – Behinderten.
Nachdenken über Behinderung
Da der sicherste Weg, Andere zu verstehen, der ist, sie selbst anzuhören, gibt es hier und hier eine kleine Liste mit links. Ferner möchte ich heute mit Zitaten schließen. Das Erste ist von einer rollstuhlbedürftigen Freundin, die mir vor vielen Jahren am Ende des Medizinstudiums, welches für sie sehr viel schwerer zu bewältigen war als für mich, ein Druckexemplar ihrer Doktorarbeit überreichte und in die Widmung schrieb: “Jeder Tag bedeutet ein ‘Dennoch’!”
Die Anderen sind in den letzten Tagen bei twitter zu lesen gewesen:
- “Ich bin eine behinderte Person. Ich möchte nicht gern “nicht – behindert”, also eine andere Person sein. Aber ich kann mir ein Leben einfacher und mit mehr Leichtigkeit vorstellen”. (aus zwei tweets zusammengestellt)
- “Unser Sohn hat eine Behinderung. Ich wünschte, die Wahrnehmung [der Mitmenschen] würde sich ändern. Um negative Stereotype zurechtzurücken: Unser Sohn ist perfekt und unser Leben wäre traurig ohne ihn”.
Jeder Tag ist für uns alle einer, den wir trotz vieler Widrigkeiten bewältigen wollen. Wenn wir unsere Körper nicht grundlegend verändern können, müssen wir Rahmenbedingungen leichter machen. Wir können alle “behindert” sein oder werden, manche vorübergehend, manche dauerhaft. Aber Jede*r von uns ist, so wie er ist, “gut”, vor allem gleichwertig, und sollte auch so wahrgenommen werden; alles Andere ist diskriminierend und menschenfeindlich.
Literaturtipps
Karl Friedrich Ernst: Behinderung und Teilhabe
Raúl Aguayo-Krauthausen: Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.
Andrea Schöne: Behinderung & Ableismus
Danke für Bild von John Hain auf pixabay
Kommentar verfassen