Medizin: alternativ, komplementär, integrativ?
Liest man sich durch die Medien, scheint der ‘Krieg’ zwischen ‘Schulmedizin’ und anderen Heilmethoden eher zuzunehmen. Unser Gesundheitssystem hat viele Probleme, die alle in einem münden: zu wenig Zeit für die Patienten. Diese suchen dann nach Alternativen, wobei hier allerdings vereinfacht alles gemeint ist, was eben nicht ‘Schulmedizin’ ist, die in diesem Zusammenhang negativ konnotierte Schulmedizin, der wir aber zu einem großen Teil unsere gestiegene Lebenserwartung verdanken, Beherrschung von Seuchen, besseres Überleben von Neugeboren und vieles mehr. Immerhin: im Frühjahr 2024 gaben 81% der Befragten an, dass sie dem medizinischen Personal und dem Gesundheitspersonal vertrauen.
Medizin: Komplementär oder alternativ?
Komplementär bedeutet ‘ergänzend’. Ergänzung setzt voraus, dass schon etwas da ist, was dann ergänzt wird. Sprache ist wichtig, sie kann, korrekt angewandt, genau benennen und keine Zweifel offen lassen. Es liegt also an uns, unsere Begriffe zu hinterfragen und sie korrekt zu benutzen.
Alternativ dagegen bedeutet: ‘statt dessen’. Das ist nicht ‘ergänzend’. Dennoch werden ‘Alternativmedizin ‘ und ‘Komplementärmedizin’ weit verbreitet als gleichbedeutend eingesetzt. Das ist schade, denn es zementiert einen Gegensatz, der so nicht sein sollte: Schulmedizin gegen etwas Anderes. Oder, in der Auffassung vieler Patienten: ‘Chemiekeule’, verletzende (operativ eingreifende) Medizin gegen ‘natürliche’ Heilung, was immer sie damit meinen. Denn selbstverständlich heilt ein komplizierter Knochenbruch nicht ‘natürlich’ funktionsgerecht aus, auch kann eine bakterielle Infektion kaum anders als mit Antibiose behandelt werden. Außerdem ist keinesfalls alles ‘Natürliche’ gut und alles ‘Künstliche ‘ schlecht. Was aber statt des Gegensatzes sein sollte: komplementäres Einsetzen aller Methoden, ob ‘klassisch’ oder ‘alternativ’ in einer Medizin; denn Medizin ist außer Wissenschaft der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung von Krankheiten für die Patienten vor allem eins: Heilkunst. Wobei Heilen wiederum nicht nur als Behandeln von Erkrankungen verstanden wird, sondern als Linderung von Beschwerden.
“Wer heilt hat Recht”?
Patientenwohl als oberste Richtlinie hat der Deutsche Ehtikrat schon 2016 festgestellt. Unabhängig davon, dass anstelle eines allgemein definierten “Wohls ” der Patienten heute der Wille der Patienten im Vordergrund von medizinischen Entscheidungen steht, muss klar sein, dass es eine evidenzbasierte Medizin gibt, die ihre Entscheidungen auf nachgewiesene Fakten stützt, auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Auch wenn unsere Wissenslücken noch erheblich sind, ist hier die Grundlage einer anzuerkennenden Medizin gelegt, die leider den etwas abfällig gemeinten Namen “Schulmedizin” erhielt, so als ob sie einfach nicht über den Tellerrand sähe, während rundherum ‘alternative’ Heiler aller Art die Weisheit besäßen, das ‘Ganze’ zu sehen. Bei einem geringen Prozentsatz von an Karzinomen mit eher schlechter Prognose erkrankten Patienten kommt es zu Heilungen: unabhängig davon, ob sie eine Substanz A oder B zu sich genommen haben. Derjenige, der eine Substanz verordnete oder einnahm, hatte dann nicht “Recht”. Vielmehr geht es darum, dass wir durch mehr Forschung begreifen müssen, warum es diese ‘Spontanheilungen’ gibt und welche Besonderheiten vielleicht bei diesen Patienten vorlagen.
Ergänzend aber kann und sollte alles eingesetzt werden, was geeignet ist, um nach einer fachgerechten Diagnostik bestehende Therapien zu unterstützen, Beschwerden zu lindern und Patienten zu mehr Lebensqualität zu verhelfen.
Selbsttherapie nein! Komplementärmedizin ja!
Wenn wir Medikamente oder andere Theapiemethoden anwenden, geht es um zwei Fragen: wie ist der Nutzen – und wie der eventuelle Schaden; es handelt sich also immer um eine Abwägung. Eine Therapie soll heilen, wenn das nicht geht, lindern, aber keinesfalls für die Patienten mehr Probleme verursachen als die Erkrankung selbst. Das muss beurteilt werden, vor allem, da ja beispielsweise bei Medikamenten oft erhebliche Wechselwirkungen bestehen können. Das heisst, dass Patienten eine Beratung brauchen und dass ganz allgemein von jeder Art Selbsttherapie ohne Benachrichtigung der behandelnden Ärzte abgeraten werden muss! Krankenhäuser, die ‘integrative’ Medizin betreiben, also Schulmedizin plus komplementäre Methoden vertreten, sind noch selten zu finden. Ein Beispiel ist das Immanuel-Kant- Krankenhaus in Berlin; ebenso eine Besonderheit ist die dortige “Hochschulambulanz für Naturheilkunde” in Zusammenarbeit mit der Charité, die bewusst eine Brücke “zwischen konventioneller Schulmedizin und seriöser wissenschaftlich fundierter Naturheilkunde im Sinne der modernen integrativen Medizin” schlagen will.
Differenzierung auch in der Komplementärmedizin!
Ein schönes Beispiel, wie Zusammenarbeit und Einsetzen aller möglichen Methoden zum Wohl von Patienten aussehen kann, ist auch zu finden in der neuen begrüßenswerten Leitlinie für Komplementärmedizin bei Krebserkrankungen.
Es handelt sich um eine sogenannte S3-Leitlinie, also eine Leitlinie der höchsten Qualitätsstufe, bei der die Experten mehrerer Fachgesellschaften einen Konsens hergestellt und formuliert haben. Hier werden die wichtigsten Methoden und Substanzen, die komplementär von Patienten benutzt werden, nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin bewertet. Darum genau aber geht es doch: Komplementärmedizin ja, aber sie soll wirken und nicht schaden. Untersucht wurden hier unter diesem Gesichtspunkt Methoden wie Sport, Akupunktur, Chirotherapie, Osteopathie und Reflextherapie; ebenso Gabe von Vitaminen, Pflanzentherapeutika wie Aloe Vera, Ginseng und Johanniskraut sowie sekundären Pflanzenstoffen wie Lycopin und Curcumin, auch von Spurenelementen wie Zink. Aufgrund der wissenschaftlichen Evidenz wird dann eine Empfehlung ausgesprochen, ob eine Methode oder eine Substanz bei Patienten mit bestimmten Erkrankungen als Zusatztherapie erwogen werden kann, ob aufgrund mangelnder Daten (bisheriger Kenntnisse) eine Empfehlung für oder gegen diese Anwendungen nicht ausgesprochen werden kann, ob eine Methode nicht empfohlen werden kann oder ob klar abgeraten werden muss.
Mangelnde Differenzierung als Hauptübel
Man sieht an diesem Beispiel sehr schön, wie wichtig die Differenzierung ist. Eine Methode kann ‘an sich’ gut für etwas sein, für bestimmte Patienten in bestimmten Krankheitsststadien aber nicht. Eigentlich ist nur das, was unter ‘Sport’ im allgemeinen zusammengefasst wird und körperliche Bewegung meint, die aber alters- und situationsentsprechend angepasst werden muss, für alle lebenslang empfehlenswert. Es ist zu hoffen, dass es zu mehr solchen Leitlinien kommt und dass zusammenfassende Versionen als ‘Patientenleitlinien’ entstehen ( wie im genannten Fall der Onkologie-Leitlinie schon angekündigt); dass darüber hinaus mehr Studien zu größerer Sicherheit in der Beurteilung führen und dass ‘Komplementärmedizin’ zu dem werden kann, was der Name sagt: ein Teil einer ganzheitlichen, integrativen Medizin.
LITERATURTIPPS
Brinkhaus B, T. Esch (Hrsg). Integrative Medizin
Grönemeyer D.: Naturmedizin und Schulmedizin
Grönemeyer D.: Medizin verändern
Gottschling S.: Wer heilt hat Recht. Chancen und Grenzen der Alternativmedizin
Danke für Bild von healthaide.always auf Pixabay
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