Nach Alabama: sind Embryonen Kinder?
Im Februar 2024 ging das Urteil aus Alabama/USA um die Welt: ein Embryo sei ein Kind, ein kryokonservierter Embryo ein Mensch mit Persönlichkeitsrechten. Embryonen seien unabhängig von ihrer Lokalisation eben Kinder. Daraus ergaben sich neue juristische Fragestellungen und vor allem eine völlige Verunsicherung von Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch: werden Patient:innen und Ärzt:innen jetzt strafrechtlich verfolgt? Als erste Konsequenz jedenfalls stellte die Universität Alabama ihr Programm für Künstlichen Befruchtung ein, stoppte die in-vitro-Befruchtung.
Was ist eigentlich ein Embryo?
Jeder scheint es irgendwie zu wissen, dennoch sieht man bei der Durchforstung von Medienartikeln, dass hier wieder ein Begriff in vielen verschiedenen Bedeutungen benutzt wird. Beginnen wir mit der Biologie: nach der Befruchtung (Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle) entsteht eine sich teilende Zellansammlung, der Embryo. Hier befinden sich die sogenannten Stammzellen, das sind totipotene (alleskönnende) Zellen, aus der dann differenzierte Zellen des Organismus ( also z.B. Leberzellen, Hirnzellen, Muskelzellen) entstehen können. Diese sogenannte Blastocyste erreicht beim natürlichen Befruchtungsvorgang die menschlichen Gebärmutter etwa am 5. Entwicklungstag.
Nidation (Einnistung) – noch viel unbekannt
Die Gebärmutter muss vorher schon durch die Hormone entsprechend vorbereitet worden sein. Dieser Teil muss bei einer künstlichen Befruchtung durch Hormogabe nachgeahmt werden und der Transfer der im Reagenzglas erzeugten Embryonen findet dann um diesen 5. Tag statt. Es folgt die Einnistung (Nidation) des Embryos in die Gebärmutterschleimhaut, ein sehr komplexer Vorgang, von dem wir auch heute nicht genau alle Bedingungen und Schritte kennen. Nach der Einnistung wird der Embryo zum Fötus.
Embryoide – ein neues Embryomodell?
Selbst diese Voraussetzungen stimmen heute nicht mehr so ganz: schon länger findet Forschung an künstlich aus Stammzellen erzeugten Embryomodellen statt, den Embryoiden , die bestimmte Entwicklungsstadien erreichen können und im Tierversuch auch bereits in eine Gebärmutter implantiert wurden. Hier würde also nicht einmal die Definition mehr stimmen, dass ein Embryo aus der Verschmelzung von Eizelle und Samenzellen hervorgeht!
Embryo: vor Einnistung – Fötus: nach Einnistung.
Bleiben wir aber bei der alten Definition. Die Probleme liegen auch hier viel tiefer. Zunächst zum Juristischen. In Deutschland ist der juristische Status eines Embryos bis zur Einnistung der eines Nondum conceptus („noch nicht empfangen“); der des Fötus nach der Einnistung der eines Nasciturus („wird geboren werden“). Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, dass ab der Einnistung der Nasciturus ein einmaliges unverwechselbares Wesen ist, dass sich als Mensch entwickelt und somit Menschenwürde trägt. Nach unserer Rechtsdefinition trifft also die Alabama-Definition “Embryo ist ein Kind” nicht zu.
So weit so einfach. Eine Zelle ist kein Mensch, eine Zellansammlung auch nicht. Ein Embryo ist somit kein werdender Mensch, sondern er kann unter bestimmten Bedingungen zu einem solchen werden. Es wäre schon viel geholfen, wenn die beiden Begriffe Embryo und Fötus nicht ständig verwechselt oder als gleichbedeutend verwendet würden.
Embryo: kein Kind, keine Sache
Allerdings ist ein Embryo auch nicht nur einfach eine Sache, mit der man beliebig verfahren kann. Das Embryonenschutzgesetz in Deutschland sagt: Als ‘Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag’.
Embryonenschutzgesetz
Zwar wird das Embryonenschutzgesetz gemeinsam mit dem Stammzellengesetz heute wieder als veraltet und zu restriktiv diskutiert, da es Forschung an humanen frühen Embryonen, mit der die Hoffnung auf neue Behandlungsmöglichkeiten bei schweren Erkrankungen verbunden ist, stark einschränkt; man sieht aber in dieser Definition etwas ganz Wesentliches: wenn (und nur wenn) erforderliche weitere Voraussetzungen vorliegen, hat ein Embryo die Möglichkeit, sich zu einem Individuum zu entwickeln. Die beste Definition für den frühen humanen Embryo, ob nun natürlich oder im Reagenzglas erzeugt, wäre also: Zellverband, der sich unter bestimmten Voraussetzungen zu einem menschlichen Wesen entwickeln kann. Ein Embryo ist somit kein Mensch, er kann unter bestimmten Bedingungen aber zu einem solchen werden.
Alte Philosophie, neue Probleme
Dieser Gedanke der Potentialität geht schon auf Aristoteles zurück: im Embryo selbst (als Träger des menschlichen Erbgutes) ist schon die Möglichkeit enthalten, ein Mensch zu werden; ob er sich aber dazu entwickelt, würde letztlich auch etwas AKZIDENTELLES ( etwas Zusätzliches, aber auch Zufälliges, nicht Einzuplanendes) voraussetzen, und erst dann wäre der ontologische Status, sein SEIN als Mensch, gegeben. Aber es gibt viele verschiedene Ansätze in der Philosophie: ein anderer geht aus von der Individualwürde und spricht dem Embryo nicht nur humanen, sondern auch personalen Status zu. Hier würde der Embryo nicht zum Menschen, er wäre bereits einer; in diesem Fall müsste man vor ihm aber nicht nur eine höhere Achtung als “Nicht -Sache” haben, sondern ihm gleich Menschenwürde zuschreiben, was im Endeffekt heißt, dass er die gleichen Grundrechte besitzen würde ( z.B. Lebensschutz). Mehr zu allen philosophischen Ansätzen im weiterhin sehr lesenswerten Artikel von 2009 “Die Diskussion um den Status des extrakorporalen frühen menschlichen Embryos” von Jan P. Beckmann.
Die “Pille danach”
Wer genau hinschaut, müsste sich bei dieser Diskussion zwar nicht unbedingt mit der künstlichen Befruchtung beschäftigen, nicht mit den komplexen wissenschaftlichen Problematik von heutigen und zukünftigen Forschungsthemen ( wie z.B. der künstlichen Gebärmutter), sondern beispielsweise nur mit der inzwischen alltäglich benutzten “Pille danach”; diese ist als Notfall- Verhütungsmittel erhältlich, hat aber auch einen immer noch nicht ganz geklärten Einfluss auf die Nidation nach bereits stattgefundener Befruchtung. Insofern wäre sie kein Verhütungsmittel, sondern auch ein Früh-Abtreibungsmittel. Die gleiche Problematik besteht bei allen Mitteln, die die Nidation des schon entstandenen Embryos verhindern, wie Spiralen und andere mechanische Mittel mit und ohne Hormone durch ihre Einwirkung auf die Gebämutterschleimhaut. Wer das “Personsein” des Embryos zugrundelegt, wie es jetzt das Alabama-Gesetz wieder tut, müsste konsequenterweise also alle diesbezüglichen Mittel ebenfalls ablehnen.
Fazit
Die neue Rechtslage in Alabama betrifft uns nicht, aber sie geht uns viel an. Wir könnten, statt nur reflexartig “rückständige” Gesetze und politische Tendenzen zu verurteilen, uns einmal wieder mehr mit den Begriffen beschäftigen und überhaupt mehr darüber nachdenken, was wir persönlich und als Gesellschaft anstreben und anerkennen wollen. Die Wichtigkeit der Definitionen ist weiterhin nicht zu unterschätzen, denn diese bestimmen letztlich unsere Gesetze ebenso wie unser Zusammenleben.
Literaturtipps
Jan P. Beckmann: Ethische Herausforderungen der Modernen Medizin
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