Neujahrswunsch: Freiheit Solidarität ‘reloaded’
Zum erstenmal sind fast drei Monate seit dem letzten Beitrag vergangen. Eigentlich sollte sich der neue mit den Entwicklungen beim Thema ‘Triage’ beschäftigen, aber immer neue Meldungen, Gründe für Gedanken zu so vielen weiteren schwerwiegenden Themen, häuften sich. Offensichtlich sind die meisten Menschen überschwemmt und überfordert von alledem, was gleichzeitig auf uns einstürmt: ein nicht endenwollender grausamer Krieg – eine weiter bestehende Pandemie (oder Endemie, jedenfalls weiterhin bestehende Gefahr) – die Klimakatastrophe, die immer weniger beherrschbar erscheint – Hunger und Flucht, Hass und Terror – zunehmende Ängste und auch hier bei uns viel zu viele finanzielle Nöte. Was denken, was tun? Ich habe mir Gedanken zu den beiden Begriffen gemacht, die in diesem Jahr nach meinem Eindruck am meisten missverstanden, fehlinterpretiert, sogar missbraucht wurden: Freiheit und Solidarität. Ich habe keine Lösungen, aber den Neujahrswunsch: Solidarität und Freiheit ‘reloaded’, neu gedacht.
Das gute Leben
Was wünschen wir uns alle? Zusammengefasst doch ein gutes Leben; die ersten Sätze der etwa 2500 Jahre alten ‘Nikomachischen Ethik’ des griechischen Philosophen Aristoteles lauten: “Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung und jeder Entschluss scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt.” Einfach gesagt, Ziel für alles ist das Gute; was das aber ist und wie es zu erreichen wäre, darüber denken die Philosophen nun seitdem nach.
Als der Deutsche Ethikrat vor kurzem mit Kindern und Jugendlichen diskutierte, wurden von diesen als häufigste Wünsche angeführt: ganz oben Gerechtigkeit und Solidarität, dann Verantwortung, Freiheit, Vertrauen und “Anderes”. Das klingt gut und sogar selbstverständlich; aber es ist wie immer: man muss sich erst klar werden über die Inhalte, die wir mit diesen Begriffen verbinden.
Neues Jahr in Freiheit
Wir hier und heute leben in Freiheit: wir können gehen oder bleiben, auswählen, was wir tun, unsere Entscheidungen selbständig treffen, frei sprechen und schreiben. Dennoch akzeptieren wir laufend Einschränkungen, und das tatsächlich, um frei bleiben zu können. Ich hinterfrage nicht als Autofahrer:in die rote Ampel im Straßenverkehr, die doch meine Freiheit einschränkt, loszufahren. Dass ich diese Freiheitsbegrenzung akzeptiere, hat etwas zu tun mit der Einsicht, dass solche Einschränkungen für alle auch meine eigene Sicherheit erhöhen, ebenso wie strenge Waffengesetze dazu beitragen, dass ich mich in größerer Sicherheit bewegen kann. Der so oft gebrauchte Begriff des Selbstschutzes trifft hier also zu. Ich akzeptiere die Einschränkungen aber auch im Sinne von Fremdschutz: dem Schutz der Fussgänger, die in diesem Moment langsamer und schwächer sind als ich. Hier kommt der Begriff Solidarität ins Spiel.
Neujahrswunsch Solidarität
Ein schöner Begriff, der aber in letzter Zeit, so glaube ich, zu sehr in die Richtung des “Helfens” verschoben wurde. Der ‘gute Samariter’ klingt da an, die ‘christliche Nächstenliebe’. Das ist schön und achtbar, geht aber aus von einem Machtgefälle. Ich habe mehr und gebe, ein wenig Almosengedanken steckt darin. Dabei ist Solidarität so viel mehr: einmal die Kenntnis des gegenseitigen Aufeinander- Angewiesenseins, zum Anderen die Anerkennung gemeinsamer Werte und Güter, die es zu erhalten gilt. ‘Eigenverantwortung’ im Sinne von ‘Jeder schützt sich [nur] selbst’ ist in einer Gesellschaft, in der es immer um Miteinander geht, gar nicht möglich. Wir schützen uns nur alle und gemeinsam, indem wir solidarisch sind und Freiheit mit Beschränkungen akzeptieren. Es ist falsch, Selbstschutz und Fremdschutz zu trennen oder gar gegeneinander auszuspielen.
Glück und Gut
Ist ein ‘gutes Leben’ auch ein ‘glückliches Leben’? ‘Glücklich’ beschreibt eher Erfahrungen, eine ‘Lebensqualität’, ‘gut’ eher Wertungen. Gleichsetzung ist wohl kaum gegeben. Folgt man wieder Aristoteles, bedeutet das Gute im Leben Glück, aber man kann nicht sagen, dass Glück auch das Gute im Leben bedeutet. Glück ist wohl kein Menschenrecht, nur das ‘Streben nach Glück’ sollte eins sein, auch wenn es im Gegensatz zur amerikanischen in keiner europäischen Verfassung verankert ist. Im Vordergrund europäischer Bürgerrechte stehen Freiheit, Gleichheit und Sicherheit. Wenn Streben nach Glück ein Menschenrecht ist, bedeutet das aber viel für jeden einzelnen Menschen. Der Nobelpreisträger Amartya Sen wies oft darauf hin, wenn er betonte, dass es bei ‘Armut’ in dieser Welt viel weniger um die zu geringen Einkommen geht, sondern um die Chancen für alle jungen Menschen, zu lernen und Fähigkeiten zu entwickeln. Dieses Glück würde auch Freiheit, Gleichheit und Sicherheit bedeuten.
Glück für alle 2023
Aristoteles meinte genau dies: dass ein gutes Leben nur in Gemeinschaft und Solidarität möglich ist. Seine ‘Tugendethik’ sagt ganz einfach, dass ein ‘guter’ Mensch nicht überall Vorschriften braucht, er wird ganz frei gut, also alles mitdenkend, handeln. Aber selbst wenn ich mich in Deutschland gern auf ‘unseren Philosophen’ Kant berufe, der mit seinem schönen Satz “Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen” immer zitiert wird, wenn es um Selbstbestimmung und Freiheit geht: dieser Kant gerade hat doch in seinem ‘kategorischen Imperativ’ gesagt, dass Jeder sich zwar seine Leitsätze selbst geben kann, aber nur denen folgen solle, die ein allgemeines Gesetz werden könnten! Heisst das nicht auch ‘Eigenverantwortung’ im Sinne von ‘Jeder schützt Alle’? Oder ‘Freiheit’ in dem Sinne, dass ich weiß: meine freie Entscheidung braucht in jedem einzelnen Falle vorheriges Nachdenken über die Folgen meines Handelns?
‘Posttraumatisches Wachstum’
Damit sind wir bei den Neujahrswünschen für 2023 angekommen. Die ‘Posttraumatische Belastungsstörung’ ist nach diesen letzten Jahren wohl den meisten bekannt. In der Psychologie wird aber auch ein ‘posttraumatisches Wachstum’ beschrieben. Das ist nicht ganz neu – man denke an Viktor Frankls Beschreibungen aus dem Konzentrationslager – aber die Traumaforschung beschäftigt sich weiter damit. Dahinter verbirgt sich mehr als Nietzsches “Was mich nicht umbringt, macht mich stark”, und es muss ganz klar bleiben, dass ein Trauma immer ein Trauma ist, welches in keinem Falle schöngeredet werden darf; es scheint aber, dass es auch dieses Wachstum nach Traumen tatsächlich gibt und dass Faktoren zu identifizieren sind, die es beeinflussen. Man hat die Vorstellung, dass es nach der ersten psychischen Grunderschütterung mit erheblichem Leiden zu einer Art neuen (und besseren) Zusammensetzung und Erweiterung der psychischen Ressourcen der Menschen kommt. Einer der Faktoren dabei ist jedenfalls: unterstützende soziale Beziehungen, damit Teilhabe für alle möglich wird.
Schließt sich hier nicht ein Kreis? Ich wünsche mir für das Jahr 2023, dass alle in diesem letzten Jahr Traumatisierten – ob stark, mäßig oder weniger- ihre Traumen gleich welcher Art langsam überwinden und sogar zu einem posttraumatischen Wachstum kommen können; dazu brauchen alle Unterstützung; und die, meine ich, beginnt damit, dass wir alle unsere jetzt vielfach nicht klaren Begriffe hinterfragen und zu einem neuen Bewusstein von Freiheit und Solidarität finden.
Literaturtipps
Aristoteles: Nikomachische Ethik
Viktor E. Frankl: Trotzdem Ja zum Leben sagen
Danke für Bild an G. Altmann auf https://pixabay.com/de/
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