Patientenrechte: Nichtwissen und Vergessenwerden?

Seit Jahrzehnten ist in der Medizinethik die Autonomie der Patienten ein Hauptthema. Geklärt ist, dass Patienten an allen medizinischen Entscheidungen selbst beteiligt werden müssen: es muss eine jedem gemäße Aufklärung vorgenommen werden, erst dann soll eine gemeinsamen Entscheidungsfindung über den zu gehenden Weg in Diagnostik und Therapie folgen. Patienten müssen jeder an ihnen vorzunehmenden Handlung zustimmen und, um das zu tun, müssen sie genau verstanden haben, worum es geht. Zur Autonomie gehört aber auch, sich gegen Wissen zu entscheiden, Nichtwissen zu wollen. Auch Vergessenwerden nimmt einen immer höheren Stellwert ein.
Recht auf Wissen und Nichtwissen
Der Vorgang scheint heute geklärt. Am Anfang steht die ärztliche Indikation: Ärztinnen stellen nach dem Erstgespräch mit Patienten fest, welche Untersuchungen und Behandlungen sie für angezeigt halten. Dafür gibt es bestimmte Rahmenbedingungen, Leitlinien, die den ÄrztInnen von der evidenzbasierten Medizin zur Verfügung gestellt werden. Patienten müssen dann, damit die Untersuchungen beginnen können, diesen zustimmen. (‘Informed consent’, informierte Einwilligung). Es soll ein im Gespräch zwischen Arzt oder Ärztin und Patient stattfinden, in dessen Verlauf es zu ‘Shared Decision Making’ – gemeinsamer Entscheidungsfindung – kommt. Wenn eine Vorsorgevollmacht oder eine Betreuungsverfügung vorliegt, kann das Gespräch auch mit dem/der Bevollmächtigten geführt werden. Viele Probleme sind allerdings noch nicht befriedigend gelöst, z.B. wenn aus sprachlichen Gründen keine befriedigende Kommunikation mit Patienten möglich ist.
Wissen über Untersuchungen und Behandlungen
Was bei nicht eingreifenden Untersuchungen wie z.B. Blutentnahme oder auch Ultraschalldiagnostik einfach klingt, kann bei invasiveren wie z.B. einer Herzkatheteruntersuchung schon schwieriger sein. Im ersten Falle denken Patienten wenig über ihre Zustimmung nach, sie empfinden sie auch als folgerichtig, wenn sie sich selbst zur Untersuchung in ärztliche Hände begeben haben. Im zweiten Fall aber werden sie oft mehr Fragen haben und auch alternative Möglichkeiten erst erfragen wollen. Noch komplizierter erscheinen die Probleme bei Therapien. Die meisten Patienten stimmen der Einnahme von Medikamenten ohne viel Nachdenken zu, anders ist das bei Operationen; hier wird viel mehr nachgefragt, nach alternativen Möglichkeiten gesucht und eventuell gewünscht, eine Zweitmeinung einzuholen.
Vertrauen, nicht wissen wollen?
Dass bei Alledem auch ein Recht auf Nichtwissen besteht, ist viel weniger bekannt und weiter in der Diskussion. So gibt es auch heute Patienten, die z.B. bei einer vorgeschlagenen Operation sagen: “Ich habe Vertrauen zu Ihnen und möchte nicht mehr über die Einzelheiten wissen. Handeln Sie so, wie Sie es als Fachexperte für am richtigsten für mich halten”. Wichtig ist in einem solche Falle aber: die Patienten müssen unterschreiben, dass sie nicht aufgeklärt werden wollen, denn Ärzte von ihrer Seite aus sind zur Aufklärung verpflichtet.
Recht auf Nichtwissen bei Genetischer Untersuchung
Ganz neue Fragen ergeben sich bei neuen Untersuchungsmethoden. Beispiel: Beratung werdender Eltern zu Pränataldiagnostik (PND). Ferner werden seit den 60er Jahren in vielen Ländern Neugeborene auf seltene Erkrankungen untersucht, (Neugeborenenscreening); dabei kann die Gesamtanalyse des Genoms wichtige Informationen bei seltenen und onkologischen Erkrankungen, aber auch solche Daten ergeben, die man nicht suchte; So können z.B. vererbbare bekannte oder ganz neue Krankheiten entdeckt werden. Für all das gab es aber im Vorfeld keine nötige Aufklärung und folglich konnte es keine informierte Einwilligung geben. Um die damit zusammenhängenden ethischen Fragen anzugehen, begannen in USA schon länger die “gNBS pilot studies”, in Deutschland haben sich Forschungsgruppen an Universitäten gebildet. Die offenen Fragen beziehen sich außer auf Datenschutz, Speicherung und Selektion der Ziel-Erkrankung besonders auf das angesprochene Problem der Einwilligung, damit verbunden der Elterlichen Verantwortung.
Offene Zukunft erhalten?
Bei den angesprochenen Neugeborenenuntersuchungen heisst die Grundsatzfrage für die Eltern: Möchte man dem Kind durch Nichtwissen eine offene Zukunft erhalten? Diskutiert wurde, ob eine Vorausverfügung erstellt werden müsste, was Patienten wissen wollen; z.B „ Ich möchte nichts über lebensreduzierende Erkrankungen erfahren, wenn diese nicht behandelbar sind”. Inzwischen gibt es die ersten konkreten Handlungsempfehlungen für Aufklärungs- und Einwilligungsprozesse durch die interdisziplinäre Gruppe EURAT, die auch eine Informationsbroschüre für Minderjährige und Eltern erstellte.
Ähnliche Probleme können aber für jeden von uns entstehen bei den zunehmenden Früherkennungstests, z.B. auf die Alzheimer-Demenz. Was können- und was wollen wir wissen?
Gibt es ein Recht auf Vergessenwerden?
Dieser wichtigen Frage begegnet man immer mehr in den letzten Jahren, allgemeiner bei Problemen der Datenhandhabung sowie mit dem Fortschritt der Medizin zusammenhängend. Dazu gehört nämlich, dass Krebs heute nicht mehr unbedingt “unheilbar” ist. Beispielsweise gibt es bei Kinderkrebs je nach Krebsart inzwischen fast 90% Heilungen, auch bei jungen Erwachsenen (15-39 J.) sind die Überlebenschancen inzwischen ausgezeichnet. Generell gilt ein Krebs als geheilt nach 5 Jahren; d.h. ab hier ist die Möglichkeit einer Neuerkrankung nicht höher als in der allgemeinen Bevölkerung. Man möchte denken, dass diese Menschen mit einer Krebsvorgeschichte (keine “Patienten” mehr !) die gleichen Rechte besäßen wie jeder andere Bürger in Deutschland. Das ist aber oft nicht so. Vielmehr werden ehemalige Krebskranke diskriminiert!
Diskriminierung von ehemaligen Krebskranken?
Ja, ehemalige Krebskranke werden trotz aller Gesetze betr. Allgemeiner Gleichbehandlung diskriminiert; denn die Schranken für geheilte ehemalige Krebskranke sind oft unüberwindbar hoch. Man sieht das, wenn diese Menschen eine Berufshaftpflichtversicherung abschließen wollen oder einen Kredit benötigen für ihren Hausbau. Auch eine Adoption wird praktisch unmöglich gemacht. Wie kann das sein? Das Recht auf Vergessenwerden erfordert noch gesetzliche Schritte!
Natürlich darf man bei Fragebögen keine falschen Gesundheitsangaben machen. Danach folgt aber ein oft automatisierter Weg, der ehemaligen Krebserkrankten alles versperrt. Wenn sie zum Beispiel wahrheitsgemäß jährliche Nachuntersuchungen angeben, können Versicherer Abrechnungen prüfen oder bei den behandelnden Ärzten nachfragen. Wenn dann eine “alte” Krebsdiagnose an irgendeiner Stelle einfach übernommen wird, können trotz Heilung Anträge von vornherein abgelehnt werden.- Das Gleiche passiert bei geplanten Adoptionen bei den vorher erforderlichen Gesundheitsprüfungen. So entsteht ein Vorgehen, wo am Ende keine gerechte Beurteilung mehr steht; schon der Weg ist durch die Notwendigkeit, mehrere Anträge bei verschiedenen Versicherern zu versuchen und unter Umständen Aufschläge zu bezahlen, für ehemalige Krebskranke viel komplizierter. Das ist diskriminierend und entspricht nicht den schönen Schlagworten von Gleichbehandlung und Teilhabe für Alle.
Was ist zu tun?
Andere Länder haben auf diese Ungerechtigkeit längst mit einer Gesetzgebung reagiert: Belgien, Frankreich, Italien, Niederlande, Portugal, Rumänien, Spanien und Zypern haben ein Recht auf Vergessenwerden auf nationaler Ebene umgesetzt. Dänemark, Griechenland, Irland, Luxemburg und Tschechien haben wenigstens schon sogenannte ‚Codes of Conducts‘ erarbeitet. Das sind Rahmenbedingungen in der Form von Selbstregulierungsregeln; zu denen gehört eine freiwillige Verpflichtung der Versicherer, das Recht auf Vergessenwerden in der Praxis umzusetzen. Da ist für Deutschland noch genug zu tun. Auf dem Wege dorthin gilt auch für diesen Aspekt: wir brauchen erheblich mehr Gesundheitskompetenz für alle: eine vollständigere und immer weiter differenzierte Ausbildung aller Akteure im Gesundheitswesen sowie eine bundesweite intensivere Aufklärung auch in ethischen und medizinrechtlichen Themen in verständlicher Sprache.
Literaturtipp
Martin Bleckmann: Mein Recht als Patient
Danke für Bild an GregMontani auf http://www.pixabay.com
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