Sind Pflanzen Lebewesen?
In dieser Zeit, in der Menschen mit so vielen Problemen zu kämpfen haben, ausgerechnet über Pflanzen reden? Unbedingt, denn Menschen sind von Pflanzen unmittelbar abhängig. Nur Pflanzen produzieren Sauerstoff, den wir für unsere Atmung brauchen. Das Überleben von Tieren und Menschen ist vom Überleben der Pflanzen abhängig. Die Begrünung der Erde begann damit, dass eine Algenart sich vor 500 Millionen Jahren an das Land anpasste. Heute beschäftigen sich Universitäten damit, die molekularen und morphologischen Prozesse von damals zu begreifen in der Hoffnung, dass wir mit diesem Wissen heute Pflanzen helfen können, sich besser an den Klimawandel anzupassen, der sie und uns bedroht.
Ohne Pflanzen kein Leben
Die etwa 500 000 Pflanzenarten auf der Erde könnten gut ohne uns leben, wir aber nicht ohne sie. Ist uns allen dieser Stellenwert der Pflanzen wirklich bewusst? Die Sprache ist wie immer verräterisch: von “leben” sprechen wir nur im Zusammenhang mit Menschen und Tieren, schließen Pflanzen nicht ein. Pflanzen vertrocknen, verwelken, sie ‘sterben’ nicht in unserem alltäglichen Sprachgebrauch; in unserer Vorstellung existieren sie im Hintergrund, wie etwas Passives, eine Dekoration, zu der wir von unserer Seite aus auch ein emotionales Verhältnis haben können, die aber eigentlich ein Gegenstand ist. Auch das Gemüse “stirbt” nicht in unserer Vorstellung; das ist aber genau das, was es tut, wenn es geerntet wird.
Wir brauchen Pflanzen. Sie sind aber keine Gegenstände, sondern Lebewesen. Sie erfüllen die Kriterien, die wir für Lebewesen haben. Wir müssen daher ‘gut’ zu ihnen sein – nicht nur, weil wir sie brauchen!
Was ist ein ‘Lebewesen’?
Als Kriterien des Lebens werden angesehen: Bewegung, Reizbarkeit, Fortpflanzung, Evolution, Wachstum und Entwicklung, Stoff- und Energiewechsel. All dies ist bei Pflanzen in verschiedenen Formen gegeben. Pflanzen nehmen wahr, sie kommunizieren miteinander und mit ihrer Umwelt. Sie agieren und reagieren auf Reize, z.B. Berührungen, Musik und Licht. Sie produzieren Stoffe, um abzustoßen oder anzulocken. Es gibt Studien, in denen man die fleischfressende Venusfliegenfalle mit Äther betäubte. Die Ergebnisse entsprachen den bei einer Narkose von Menschen auftretenden Effekten. Pflanzen scheinen zudem ständig Ereignisse zu registrieren und zu speichern, eine Art Gedächtnis zu haben. Sie “lernen” in Versuchsanordnungen, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Pflanzen sind also Lebewesen, genauso wie Menschen und Tiere. Als dritte Kategorie gibt es die Pilze, die teilweise den Tieren mehr ähneln als den Pflanzen: sie haben keine Photosynthese, sondern nehmen Nahrung aus anderen Organismen auf. Zu den Lebewesen gehören auch Bakterien. Das ist alles zu weit gefasst? Gegenbeispiel: KEINE Lebewesen sind Viren! Diese können nicht selbständig existieren; sie haben keinen eigenen Stoffwechsel und brauchen eine sogenannte Wirtszelle, in der sie leben und sich vermehren können.
Was sagen Philosophie und Theologie?
Bewusst zugespitzt, aber völlig korrekt, kann man sagen, dass Menschen Tiere oder Pflanzen töten müssen, um überleben zu können. Daher haben Veganer versucht, die Grenze da zu ziehen, wo Lebewesen ’empfindungsfähig’ sind und leiden können. Dort hatte sie auch der Philosoph Jeremy Bentham gezogen, der gesetzliche Regelungen forderte, um leidensfähige Lebewesen zu schützen. Der Philosoph Peter Singer setzte die Grenze beim ‘Selbstbewusstsein’. Im antiken Griechenland sprach Aristoteles vor über zweitausend Jahren den Pflanzen durchaus eine Seele zu, sah aber eine Abstufung von Mensch – Tier – Pflanze, wobei der Mensch auf der höchsten Stufe stünde, Verstand ( NOUS) besäße. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant, der nur den Menschen als Verstandeswesen ansah, forderte immerhin Achtung von Tieren und Pflanzen. Von der “Ehrfurcht vor dem Leben” sprach Albert Schweitzer. Man sieht die verschiedenen Ansätze: die ‘Anthropozentrik’ stellt den Menschen in den Mittelpunkt, die ‘Pathozentrik’ das leidende Lebewesen, die ‘Biozentrik’ alle Lebewesen. Bei den Religionen sprachen die frühen von der Heiligkeit der Natur, in der sich die Götter offenbarten, das Christentum dann davon, dass sich der Mensch die Erde untertan machen solle. Das tut er nun; aber alle unsere Handlungen, auch die Ernährung, die wir wählen – ob vegan, vegetarisch, flexitarisch oder was immer – haben mit dieser Vorgeschichte zu tun und sind eingebettet in eins dieser Weltbilder, zu dem wir uns entschlossen haben.
Pflanzenethik und Pflanzenrechte
Ethische Fragen bewegen sich immer um “das Gute”. Was ist gut für uns, was ist gut für die Pflanzen? Hier ist beides praktisch untrennbar verwoben. Fest steht, dass sich, wenn Pflanzen Lebewesen sind, die Frage nach Wert und Würde bei ihnen genauso wie bei Tieren und Menschen stellt: man muss ihnen eine eigene moralische Position zuschreiben; unmittelbar daraus ergeben sich Fragen bezüglich ihrer Rechte. Stefano Mancuso entwarf ein Manifest der Pflanzenrechte. Die Menschen werden dabei scharf kritisiert: diese Neuankömmlinge, die auf der Erde erst etwa 300.000 Jahre leben, würden sich wie Kinder verhalten, die gefährlichen Unsinn anstellen, “ohne den Wert und die Bedeutung dessen zu erkennen, womit sie herumspielen.“ Gäbe es eine Nation der Pflanzen, wäre sie charakterisiert durch Zusammenarbeit und Fehlen von Hierarchien; Sauberkeit von Wasser, Luft und Boden sei gewährleistet, alle Ressourcen würden regeneriert. Die Diskussion um Pflanzenrechte läuft und bezieht sich auf Fragen wie Rechte auf Fortpflanzung und Entwicklung, respektvolle Forschung und Verbote, Pflanzen zu patentieren.
Können Planzen leiden?
Die Contra – Argumente gehen immer wieder auf die ‘Leidensfähigkeit’ zurück, von der man nicht ausgehen könne; zwar würden Pflanzen reagieren, aber Leidensfähigkeit setze ein Zentralnervensystem voraus, welches sie ja nicht besäßen. Hier beruft man sich größtenteils auf P. Singer, der Leben nur dann für schützenswert hält, wenn es ein Selbstbewusstsein hat, was auf Pflanzen nicht zuträfe. Allerdings stößt diese Argumentation rasch an Grenzen: unmittelbar wird die Frage aufgeworfen, wann denn Menschen Selbstbewusstsein haben. Als Embryo? Im Koma? Die logische Folgerung wäre ja, dass dann diesen Menschen kein Schutz zukäme, dass sie keine Rechte hätten. Zudem ‘sehen’und ‘hören’ Pflanzen auch ohne unsere Sinnesorgane auf andere Weise; es ist also vielleicht ganz falsch, wenn wir nur von unserem Zentralnervensystem ausgehen, zumal wohl heute feststeht, dass andere Organismen nicht nur ‘automatisch’ reagieren, sondern dass es bei ihnen offenbar Entscheidungsprozesse gibt.
Züchtung und Genom-Editierung
Was machen wir Menschen mit den Pflanzen? Schon lange züchten wir. Züchtung ist nichts ‘Natürliches’: sie bedeutet künstliche Auswahl nach gewünschten Merkmalen und kontrollierte Fortpflanzung. Zusätzlich gibt es heute außer den klassischen Methoden der Kreuzung und Auslese viele Verfahren, die mehr oder weniger in das Erbgut der Pflanzen eingreifen. Pflanzen können auch Giftstoffe produzieren, deren Gehalt bei spontanen Mutationen unkontrollierbar ansteigen kann ( z.B. Solanin bei Kartoffeln); insofern wären kontrollierte Mutationen besser als die ‘natürlichen’, unkontrollierten. Es gibt Regeln und eine gesetzliche Definition, was ein ‘genetisch veränderter Organismus’ (GVO) ist, wo er angebaut werden darf und wie er gekennzeichnet werden muss. Nicht beantwortet sind damit die moralischen Fragen: dürfen wir Pflanzen so verändern, dass sie sich nicht mehr natürlich fortpflanzen können? Dass ganze Arten aussterben? Was ist ein ‘gutes’ Leben für eine Pflanze? Nicht beantwortet sind zudem viele Fragen bezüglich ganz neuer Techniken: ist auch eine Pflanze eine GVO, wenn sie keine fremde DNA enthält, wie es bei den neuen CRISPR-Cas9 – Techniken im Endergebnis der Fall sein kann?
Was sagt das Gesetz?
In Deutschland überträgt das Grundgesetz in Artikel 20a dem Staat, “auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen” zu schützen. 2002 wurde dieser Abschnitt durch die Formulierung “und die Tiere” ergänzt. Die Bayerische Verfassung sagt: Tiere werden “als Lebewesen und Mitgeschöpfe geachtet und geschützt”. In beiden Verfassungen beruft man sich ‘auch’ auf die Verantwortung für die künftigen Generationen als Grund für den Schutz von Tieren und Natur, erwähnt aber die Natur selbst und die Pflanzen nicht eigenständig. Es geht allgemein um die “natürlichen Lebensgrundlagen”, also die Bedeutung für den Menschen. Anders formuliert ist das in der Schweizerischen Bundesverfassung: neben dem “Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt” ist hier auch vom “Naturschutz” und dem “Schutz der Tier- und Pflanzenwelt” die Rede. Darüber hinaus verwendet man hier ausdrücklich die “Würde der Kreatur”, was auf Menschen, Tiere und Pflanzen bezogen werden kann. Bezüglich der Tiere werden diese heute endlich nicht mehr als Gegenstände und Maschinen definiert, sondern als Wesen, die uns sehr ähnlich sind, die Pflanzen warten noch.
Synthetische Nahrung?
Von der Diskussion um Tierrechte ist die unterschwellige Angst bekannt, der Mensch würde seine besondere moralische Stellung verlieren. Darüber hinaus geht es um Gewohnheiten. Allerdings werden auch ganz praktische Fragen gestellt, wie diese: Gäbe es überhaupt noch eine Nahrung, die mit Recht und Gewissen vereinbar wäre? Wäre beispielsweise selbst vegane Lebensweise ethisch problematisch? Die zugespitzte Frage führt darauf zurück, wie stark verwoben alles ist: da zum Beispiel Nutztiere (für den Fleischkonsum der Menschen) mit riesigen Mengen Pflanzen gefüttert werden müssen, hilft jede Art von Vegetarismus und Veganismus auch den Pflanzen, unabhängig von der Frage, ob diese leidensfähig sind. Im Rahmen der Bemühungen um Lösungen für das Welthungerproblem geht die Forschung weiter: Synthetische Nahrung in vielen Formen wird entwickelt, aus Stammzellen außerhalb von Tierkörpern produziertes und dann mit 3D Druckern ausgedrucktes Fleisch oder völlig synthetisch im Labor erzeugte Nahrungsmittel, von der lebensnotwendigen Stärke bis zu Proteinen.
Gesellschaft des Lebendigen
Angesichts dieser technischen Entwicklung sollten wir die gesellschaftliche Diskussion, was wir überhaupt wollen, jetzt intensiver führen. Thomas Macho stellte bei der Tierrechtediskussion die Frage ” Wie lässt sich eine gerechte, friediche Gesellschaft des Lebendigen, eine Zoopolis, einrichten?” Diese Frage, erweitert um die Pflanzen, ( Zoo-Phyto-Polis?) dürfte eine der Kernfragen für unsere Zukunft sein.
Literaturtipps:
Hans W. Ingensiep: Geschichte der Pflanzenseele
Bernhard Kegel: Die Naur der Zukunft
Thomas Macho: Warum wir Tiere essen
Stefano Mancuso: Die Intelligenz der Pflanzen
Stefano Mancuso: DiePflanzen und ihre Rechte
Peter Singer: Alle Tiere sind gleich
Danke für Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
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